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Ekstase in Zeiten der Cholera (M.E.K.A.N.)

Name

Ekstase in Zeiten der Cholera

Author

M.E.K.A.N.

Release date at us

22 Januar 2021

Pages no.

12

Format

A5

Color

schwarz und weiß

Anstatt ein Kommentar über die Zweckdienlichkeit – oder auch nicht – der vom Staat auferlegten Quarantänemaßnahmen zu sein, was eine ganz andere Diskussion wäre, ist das ein Kommentar zu biopolitischen Regierungstechniken und zum Verhalten der „Bevölkerung“ in dieser Zeit, von der es den Herrschenden gelang sie als „globale Gesundheitskrise“ zu definieren. Ich denke, dass die Weise, auf die wir in solchen Momenten reagieren, symptomatisch ist für die Funktionsweise der aktuellen Ordnung.

Anstatt ein Kommentar über die Zweckdienlichkeit – oder auch nicht – der vom Staat auferlegten Quarantänemaßnahmen zu sein, was eine ganz andere Diskussion wäre, ist das ein Kommentar zu biopolitischen Regierungstechniken und zum Verhalten der „Bevölkerung“ in dieser Zeit, von der es den Herrschenden gelang sie als „globale Gesundheitskrise“ zu definieren. Ich denke, dass die Weise, auf die wir in solchen Momenten reagieren, symptomatisch ist für die Funktionsweise der aktuellen Ordnung.

Knappe Notizen zu Biopolitik

Die Funktion eines Dispositivs1 der Kontrolle ist es sicherzustellen, dass in dem Sinne „nichts wirklich passiert“, dass das Ausbrechen von unvorhersehbaren, rebellischen oder antagonistischen Realitäten innerhalb der Grenzen der offiziellen Realität (welche selbst durch genau dieselben Kontrollinstrumente modelliert wird) verhindert oder eliminiert wird.

Wir können die charakteristischen Kontrolltechniken der europäischen Modernität als „Biopolitik“ bezeichnen, das heißt als die Erschaffung eines Kapillarnetzes an Machtbeziehungen, das das Beherrschen von Leben („bios“) zum Ziel hat. „Das Leben beherrschen“ kann unterschiedliche Formen annehmen: Es kann die Kontrolle über die Gesundheit, Fortpflanzung, Demographie, Ernährung und Epidemiologie der Subjekte bedeuten; oder das Formen und die Kontrolle über deren intime Praxen, Wünsche, Vergnügungen und Vorstellungskraft.

In der westlichen Welt handelt Biomacht normalerweise mithilfe von Verführung, Manipulation, Anregungen, Handlungsempfehlungen oder Lenkung, also eher beispielsweise mithilfe von Techniken wie Therapie, Beratung oder Bildung als durch direkten Zwang. Ein erfolgreiches Instrument der Biomacht zwingt dich nicht dazu, einen bestimmten Weg einzuschlagen, sondern überzeugt dich davon, dass dieser der einzig begehrenswerte ist, oder sogar dass er der einzig mögliche Weg ist, den du einschlagen kannst. Aber natürlich kann die moderne Biopolitik dich auch in ein Konzentrationslager einsperren und mit dir verfahren, wie es ihr beliebt.

Der biopolitische Diskurs ist immer der gleiche: die Obrigkeit ergreift alle notwendigen Maßnahmen zu Eindämmung von Bedrohungen für die Gesundheit2: die „Ansteckenden“ (die eingesperrt werden müssen), die „Degenerierten“ (die vernichtet werden müssen), die „Primitiven“ (die erzogen und/oder integriert werden müssen), die Subversiven/Unregierbaren (die vereinnahmt, integriert, eingesperrt, isoliert oder vernichtet werden müssen). Und was auch immer der Staat als seinen Feind betrachtet, das wird als eine Krankheit dargestellt (Infektion, Seuche, Krebs, Plage, etc.), das den Körper der Nation angreift. Das bedeutet, dass wann immer die „biopolitische Modernität“ Unterdrückung, Ausgrenzung, Diskriminierung, Apartheid, Verhaftungen, Terror, Krieg, Folter, Völkermord usw. anordnet, sie diese als einen Akt zur Bewahrung der Gesundheit und des Wohlergehens der Nation oder der Bevölkerung rechtfertigt. Auf diesem Weg werden sogar die skrupellosesten Reigerungsmaßnahmen von den loyalen Bürgern als eine neutrale und wohltätige therapeutische Intervention, als einen Akt der Heilung betrachtet.

Eine der größten Ängste in der bourgeoisen Modernität ist die der „Ansteckung“: die Ansteckung unseres „natürlichen“ Geschlechts/unserer Geschlechtsidentität mit dem „anderen“ Geschlecht/der Geschlechtsidentität (die Verweiblichung „richtiger Männer“, die Vermännlichung „richtiger Frauen“); unserer „normalen“ Sexualität mit „perversen“ Sexualitäten; unserer Kultur und Zivilisation mit primitiven und barbarischen; unserer Nation mit Ausländern; unserer Privatsphäre mit anderen Menschen; unserer Rationalität und unserer Wahrheiten mit Irrationalität, Unsicherheit und Ambivalenz; und, natürlich, unserer Gesundheit mit unterschiedliche Krankheiten.

Innerhalb des – inzwischen globalen – biopolitischen Dispositivs der Macht ist die Einsperrung eines der Hauptregierungsinstrumente: die Bedrohung für die Gesundheit der Nation muss isoliert werden. Die Nazis erschaffen Konzentrations- und Vernichtungslager, um die jüdische Bevölkerung zu vernichten,    die sie als die Plage definieren, die den Körper der arischen Nation infiziert; der israelische Staat    verordnet ein System der Apartheid, der Mauern, des Stacheldrahts, von Check-Points, Blockaden, Hausdurchsuchungen, Konzentrationslagern, Gefängnissen, der Entführungen, des Mordes, des Terrors, der Folter usw., um die Palästinenser einzusperren, welche sie als eine Bedrohung für die Gesundheit der Nation definieren. Die europäischen Staaten „schützen ihre Grenzen“, um die Migranten draußen zu halten, die sie ebenfalls als eine Bedrohung für die Gesundheit der Nation definieren; die USA tun dasselbe, um die Mexikaner draußen zu halten, die sie als eine Infektion für die Nation definieren… usw. man findet tausende Beispiele.

Die Mehrheit der westlichen Bevölkerung wurde in einen Zustand des Infantilismus versetzt. Damit meine ich, dass man vom Willen, der Führung und der Ressourcen von jemand anderem komplett abhängig gemacht wird (im Fall des Kindes3 beispielsweise ist es abhängig von der Familie, den Erziehern und dem Staat); und gleichzeitig die Disziplin und Kontrolle, die diese Autoritäten ausüben, für normal hält, für gut befindet, als Privileg, als Recht, als Freiheit oder als Liebe betrachtet.

• „Krise“ ist das neue Lieblingswerkzeug der Biopolitik: in einen beständigen Krisenzustand versetzt, wird die infantilisierte Bevölkerung alles tun, um „ihr Leben zu retten“.

In Zeiten der biopolitischen Krise, wie der „pandemische Notfall“, den wir gerade erleben, amüsieren sich die Faschisten, die ja auch in besten Zeiten bei biopolitische Fantasien von Völkermord und „Säuberung“ aus dem Häuschen geraten. Die faschistischen Anführer vergleichen Migrantinnen mit dem Coronavirus; die Medien verkünden, dass Migranten die Infektion mitbringen; alle möglichen Formen der Brutalität werden mithilfe von Diskursen über die öffentliche Gesundheit gerechtfertigt, usw.

Je unterwürfiger jemand ist, desto aggressiver wird diese Person Überheblichkeit und Faschismus in Zeiten der Krise begrüßen: von der eigenen Hilflosigkeit terrorisiert, beginnt der loyale Bürger nach einem Sündenbock zu suchen, nach jemandem, auf den man den eigenen Selbsthass projizieren kann. Das kann beispielsweise einer der klassischen anderen der Modernität sein: Frauen, Migranten, „Nicht-Weiße“, „Homosexuelle“, etc. In unserem Fall des „biopolitischen Staatsterrors“ von 2020 sind die Sündenböcke „die Infizierten“, „die asymptomatisch Positiven“, „jene, die der Quarantäne nicht gehorchen und uns alle gefährden“ usw.

Einige Gedanken über das, was vor sich geht

Sobald endlich ein tödlicher und abscheulicher Feind – der Virus –gefunden worden war, ergriff der italienische Staat die Gelegenheit beim Schopf, um mit den Muskeln zu spielen und um seine Funktion als Vater der Nation, der alle seine Kinder retten, sie jedoch auch bestrafen wird, wenn es nötig ist – nur zu ihrem Besten natürlich –, wiederherzustellen. Die feierliche und heroische Rhetorik der Kriegspropaganda wurde wiederbelebt, um ein bisschen Patriotismus in die verkalkten Venen der Nation zu pumpen: „Italien leidet! Italien bringt Opfer! Italien steht zusammen! Italien kämpft! Wir werden obsiegen!“

Der Staat erweitert die Technik der Einsperrung auf die gesamte Bevölkerung und spuckt eine Unmenge an administrativen Maßnamen aus, die versuchen, das, was wir tun, sagen und denken können, zu kontrollieren. Uns wird versichert, dass die Auferlegungen, entschieden von Politikercliquen und Juristen, und unterstützt von der halbgöttlichen Autorität der biomedizinischen Kaste, der einzige Weg sind, um die Gesundheit der Bevölkerung zu retten und, warum nicht, auch der ganzen Welt.

Die meisten loyalen Bürger beklatschen die drakonischen Maßnahmen und einige fordern noch mehr Strenge; sie warten, voller Hoffnung, auf die Erlösung von oben, und stürmen die Apotheken und Supermärkte in einem Wettlauf um „das Überleben des stärkeren Konsumenten“. Das Höchste, das sie erwarten, ist die Rückkehr zur „Normalität“, zu den Machtbeziehungen „vor der Epidemie“, die jetzt die absolute Freiheit zu repräsentieren scheinen.

Typischerweise überfluten die Medien einen mit Aufrufen zu „sozialer Verantwortung“, die nur noch heuchlerisch klingen können, denn so wie sie sind, kommen sie von der überernährten, überprivilegierten Bevölkerung des reichen Europas, die in ihrem Alltag die krasseste Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben anderer Menschen zeigt und gegenüber dem, inwiefern ihre eigenen täglichen Handlungen die verschiedenen globalen Dispositive des Ausschlusses, der Verelendung und der Zerstörung füttern. Das Modell des „verantwortlichen Bürgers“, das sie heraufbeschwören, ist eine der typischen Figuren der faschistischen Bürgerlichkeit: entweder der „unschuldige Bürger“, der pflichtbewusst gehorcht oder die „Polizeibürgerin“, die den Behörden bei ihren Kontrollbemühungen hilft.

Es scheint, dass die loyalen Bürger auf perverse Art diese Weltuntergangsparanoia genießen4; endlich etwas Erregung, etwas Tragik in unserem faden Leben, das Gefühl Teil von etwas Wichtigem zu sein! Dieses Wiederaufflackern des Spektakels unter biopolitischen Vorzeichen erregt jede*n in einem hohen Maße und sie stürzen sich entzückt in leidenschaftliche Diskussionen über die Epidemie; polizieren die anderen; und ziehen neue Linien in ihrem eigenen Leben in der Logik und innerhalb der Stacheldrahtumzäunungen des Konzentrationslagers.

Dieser ganze biopolitische Einsatz fungiert als Dispositiv der Kontrolle: er verschafft den, inzwischen eher erschlafften, Säulen der bourgeoisen Ordnung eine neue Erektion und erlegt sie den Menschen als sakrosankte Gewissheiten und unstreitbare moralische Prinzipien auf. Ich denke, dass, in anderen Worten, das Hauptergebnis dieser biopolitischen Krise der neue Konsens ist, dass die bourgeoise Realität die einzig mögliche ist und dass der Staat, Para-Staat oder körperschaftliche Institutionen die einzigen Entitäten sind, die in der Lage sind eine solche Krise ordentlich zu bewältigen. Einige dieser letztlich erlassenen „Infektionseindämmungs“-Maßnahmen behaupten, implizit oder explizit, dass:

Menschen unfähig sind ihre eigenen Realitäten zu bewältigen, das heißt, dass sie unfähig sind autonom zu leben; deshalb haben Autoritäten – politische, administrative, biomedizinische, militärische, wirtschaftliche, mediale, der Bildung – das Recht und die Pflicht, die Situation in die Hand zu nehmen und welche Mittel auch immer zu nutzen, die ihnen angemessen erscheinen.

Die Pflicht und Verantwortung eines „guten Bürgers“ ist es zu gehorchen. Sich den Kontrollmaßnahmen zu widersetzen bedeutet eine „Bedrohung der Gesellschaft“ und gefährdet „unsere Gesundheit und unsere Lebensart“ und muss sofort unterdrückt werden.

Die senilen Proklamationen der klassischen liberalen politischen Philosophie werden bekräftigt. So sind die einzigen Orte, die für die Bürgerin als sicher deklariert werden, die Grenzen der Immobilie, die sie besitzt oder mietet; der Arbeitsplatz (welcher heutzutage häufig mit dem Zuhause verschmilzt); oder der Konsumort (der Supermarkt, das Einkaufszentrum, etc.); während unsere Erlösung in der Isolation liegt, darin nur an uns selbst und die eigene Familie zu denken und jede*n andere*n als Bedrohung zu behandeln (Internalisierung des „Social Distancing“). Gemäß den selben Verlautbarungen sind die einzigen „gesunden“ Sozialbeziehungen jene innerhalb der bourgeoisen Kernfamilie; oder mit der Arbeit verbunden. Die Gruppe, das Kollektiv und jede Form der Selbstorganisierung, die nicht unter diese Kategorien fällt, die von der Obrigkeit als repräsentativ für die „Zivilgesellschaft“    anerkannt werden, sind eine Bedrohung für das Wohlergehen der Gesellschaft, ein Infektionsherd.

Die Hauptzielsetzungen im Leben sind „Sicherheit“ und „Komfort“: die „Sicherheit“, die von der Obrigkeit und dem Gesetz gesichert wird; und der „Komfort“, den die kapitalistischen Kreisläufe aus Arbeit-Konsum-Freizeit verschaffen. Als solche können die begehrenswertesten Dinge im Leben nur durch Gehorsam gegenüber den Regeln der offiziellen Realität erhalten werden. Einschränkungen, Bestrafungen und Kontrollen sind eine Form des Schutzes unserer Privilegien als Bürger*innen der Metropole.

Ein solches Funktionieren des „Safe Spaces“ des Bürgers ist nach der Zelle in der Knastwirtschaft modelliert.

Diese Zusammenführung der Säulen der liberalen „Freiheit“ stimuliert einen weiteren Schriftt in Richtung eines faschistischen Modells der sozialen Organisierung, wo „Allgemeinwohl“ Kontrolle bedeutet, „Verantwortung“ Gehorsam und „Solidarität“ bedeutet, das Vater-/Mutterland gegen Bedrohungen zu verteidigen. So wird biopolitischer Absolutismus nahtlos dort errichtet, wo vorher „weiche“ Biopolitik herrschte, was mich an die typisch europäischen Schwankungen zwischen „Liberalismus“ und „Faschismus“ erinnert, von der die bourgeoise Ordnung versucht uns zu überzeugen, dass es sich um Antagonisten handelt, welche aber tatsächlich zwei synergetische Aspekte des modernen Regierens sind, das seine Kreuzzüge für die „Freiheit und Gleichheit (von weißen reichen Männern)“ mit kolonialen und heimischen Massakern beginnt und das sich bis heute auf immer ähnliche Weise fortsetzt.

So viele von uns haben sich an die Autoritäten gewandt – an den Staat, die medizinische Kaste, die Polizei, Unternehmen, etc. –, um Führung und Erlösung zu finden. So viele haben, mit paranoider Erregung, die herrschende Version der Realität verinnerlicht und sich an Übertragungen der Macht gewandt, an Kanäle, durch welche die herrschenden Diskurse zirkulieren. Sie starren fieberhaft auf ihre Bildschirme und wiederholen wie Papageien die offiziellen Mantras und Rituale: „Charakteristika des Coronavirus, Morbidität, Mortalität, Inzidenz, Virulenz, Symptomatologie, Prävention, Schutz, sanitäre Versorgung, Sicherheitsmaßnahmen, Selbstquarantäne, tu dies, vermeide das… Italien, die Wirtschaft, Wachstum/Rückgang, das BIP, Arbeit, Schulden, Fördermittel, Corona-Finanzpakete…“ Alle anderen Realitäten wurden von dieser offiziellen Realität verschluckt, die mit epidemiologischen Daten um sich wirft und Anweisungen ruft. Unsere rasante Verwandlung in Bauchrednerpuppen ist ein Zeichen für unsere Abhängigkeit von der Führung der elterlichen Stimme und des elterlichen Blicks.

Doch für die Handvoll an Leuten, die sich weigern, dass ihre Vorstellungskraft von den hypnotischen Mechanismen der biopolitischen Kontrolle kolononisiert wird und die, anstatt Gehorsam zu genießen, weiterhin darüber nachdenken, wie man den Konzentrationslagern der liberalen Demokratie entkommen kann, sind diese die richtigen Momente, um die Form und die Stärke unserer Autonomie kennenzulernen und im Gehen neue Pfade zu erkunden.


1. Der Begriff „Dispositiv“ wurde von Foucault zum Zwecke der Analyse entwickelt. Er dient dazu, ein bestimmtes Verhalten, einen Diskurs oder ein bestimmtes Selbstverhältnis zu fokussieren und nach seiner jeweiligen Akzeptanz zu fragen. Das Dispositiv koordiniert Machtbeziehungen. Es besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Elemente wie Aussagen, Regeln, Praktiken, Institutionen etc. Der zentrale Effekt dieser Koordination von Machtbeziehungen ist, dass zu Diskursen angereizt wird, die ein bestimmtes Wissen erzeugen. Dieses Wissen bringt Individuen dazu, sich auf bestimmte Weise zu denken und sich auf bestimmte Weise zur Welt und zu sich selbst zu verhalten (Anmerkungen der Übersetzung).

2. Im modernen Staatsdiskurs kann die „Gesundheit“ einer Nation viele Formen annehmen, nicht nur die der „öffentlichen Gesundheit“; es können „die Wirtschaft“, „der Wohlstand“, „die Kultur“, „die Werte“, „das soziale Gefüge“, „die Institutionen“, „die Gesellschaftsordnung“, „Frieden“, „Sicherheit“ usw. gemeint sein, ein ganzer Strauß an hohlen Begriffen, die versuchen, der Gnadenlosigkeit biopolitischer Herrschaft einen hübschen Mantel umzuhängen.

3. Kinder sind nicht per se infantil, aber die bourgeoise Ordnung hat ein unentrinnbares Netzwerk an Mechanismen und Institutionen errichtet, um sie gewaltsam zu infantilisieren. Ich beziehe mich auf das gigantische „Dispositiv des Kindes“, das, von den abstrakteren Fantasien über die Reinheit, Unschuld und „Natürlichkeit“ von Kindern zu Kinderspielzeugen und -filmen, von der Entwicklungspsychologie zu Erziehungsratgebern und von Erziehungsinstitutionen bis zu Gesetzbüchern, nicht nur die westliche Ideologie über das Kind reguliert, sondern auch die Subjektivität von Eltern und Kindern. Die Widersprüche dieser Ideologie sind interessant: zum Beispiel definiert die liberale Gesetzgebung Kinder als unfähig rationale Entscheidungen zu treffen, als zu Selbstständigkeit nicht in der Lage und als abhängig von den Ressourcen und der Erfahrung von erwachsenen Experten (woraus dann das Fehlen legaler Verantwortlichkeit bei Kindern folgt, ebenso wie die Erforderlichkeit eines erwachsenen Vormunds, Zensur, Altersbeschränkungen, Schutzalter, etc); und gleichzeitig versucht dieselbe westliche Ideologie jede_n davon zu überzeugen, dass Kinder frei, autonom und in der Lage sein sollten ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, etc.

4. Ich verwende „Genuss“ auf die Art, wie es einige psychoanalytische Texte tun, um eine Form der „libidinösen Intensität“ oder „Erregung“ zu benennen, die, wenn auch ritualisiert und süchtig machend, weder angenehm noch vollkommen bewusst sein muss. Genuss ist meiner Meinung nach eng von Dispositiven der Kontrolle beherrscht, ja, diese Form der Kontrolle ist tatsächlich die Hauptinnovation der Regierung in den letzten zwei Jahrhunderten gewesen.